Gedanken zum Aufruhr in Thailand

Politik und Wirtschaft in Thailand
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nittaabi
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#1 Gedanken zum Aufruhr in Thailand

Beitrag von nittaabi »

Gedanken zum Aufruhr in Thailand

Hintergründe:

Gegen Ende der 1990er Jahre, nach der Finanzkrise von 1997, aber noch vor dem Aufstieg von Thaksin, wurde ich gelegentlich dazu aufgefordert, vor Gruppen von ausländischen Investmentberatern zu sprechen, die uns besuchten. Das Wesentliche von dem, was ich diesen Beratern zu erzählen pflegte, ist auch im Folgenden wiedergegeben, da dies in einem Zusammenhang steht mit meinen Gedanken zu den gegenwärtigen Unruhen:

Thailand ist ein Land, das sich durch ein hohes Maß an ideologischer Homogenität auszeichnet, mit einem breiten Konsens quer durch alle Schichten der Gesellschaft über die Grundwerte Thailands und das, was es ausmacht, ein Thai zu sein. Dieser Konsens umfaßt auch die Verehrung des Königs, die führende Rolle des Buddhismus, das Festhalten an einem System der freien Marktwirtschaft und die Akzeptanz einer hierarchischen Gesellschaft, die großen Wert legt auf eine Respektierung von Höhergestellten und Älteren, die Armee, Beamten und Polizei eine herausragende gesellschaftliche Stellung einräumt und in der Konsequenz die Kontrolle des Landes in die Hände eines Establishments legt, das sich an der Spitze der sozialen Pyramide befindet. Seit Jahrzehnten hat dieses Establishment seine Sicht der Nation allen Ebenen der Gesellschaft eingeträufelt, wobei diese Indoktrination bereits in den Schulen beginnt und ständig fortgesetzt wird in den Medien, durch Portraits der königlichen Familie, usw. Sich den Hauptelementen dieses Konsens nicht zu unterwerfen, gilt als "unthailändisch". Es gibt tatsächlich nur wenige, die sich dagegen auflehnen, und diejenigen, die diesen Konsens in Frage stellen, werden an den Rand gedrängt – sei es durch gesellschaftlichen Druck oder durch polizeiliche Aktionen. Dieser Konsens hat zu einer stabilen Gesellschaft geführt, in der die Leute im allgemeinen ihren Platz im Leben akzeptieren, die aber auch genug sozialen Spielraum für diejenigen bietet, die herausragen und ehrgeizig sind. Durch diesen Konsens und diese Stabilität kam es zu einem beträchtlichen wirtschaftlichen Aufschwung, der auch dazu führte, daß sich im Laufe der letzten 50 Jahre das Los der armen Landbevölkerung beträchtlich verbessert hat. Die Befürchtungen vieler, daß das Land dem Kommunismus zum Opfer fallen könnte wie in China und Indochina, haben sich als unbegründet erwiesen.

Von diesem stabilen Konsens haben die obersten Schichten der Gesellschaft profitiert – ein paar tausend Leute, die kontrollieren, was im Land passiert. Diese Elite besetzt die Schlüsselpositionen in der Verwaltung, dem Militär, der Polizei, der Wirtschaft (insbesondere den Banken) und dem Klerus – sowohl in Bangkok, als auch in den Provinzstädten. Von diesen strebt niemand nach Veränderungen in den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen, die ihnen schließlich einen komfortablen Lebensstil und eine herausgehobene Stellung in der Gesellschaft garantieren – die aber auch ein befriedigendes Wirtschaftswachstum und verbesserte Lebensbedingungen für die Masse der Bevölkerung mit sich brachten.

Die politischen Parteien in diesem System unterscheiden sich nicht nennenswert in ihren Programmen und noch weniger in ihren Ideologien, da die Leute, die die Parteien leiten, auch alle von den Vorteilen des Systems profitieren. Die thailändische Politik bestand schon immer darin, den Kuchen unter der Elite aufzuteilen – nur ein kleiner Teil der Wohltaten fand dabei dann auch seinen Weg bis zu den Leuten ganz unten. Die wenigen Leute, wie Kukrit und Boonchai, die versucht haben, der Politik eine sozialere und wirtschaftlich gerechtere Ausrichtung zu geben, blieben weitgehend ohne Erfolg und eine bürgerliche Gesellschaft wurde so lange toleriert, wie sie keine radikalen Reformen des Systems verlangte. Ein Mann wie Banharn konnte sich aus bescheidenen Verhältnissen durch diese Strukturen hocharbeiten bis zum Premierminister, aber nur, weil er es auf brilliante Weise verstand, in diesem System mitzuspielen, und nicht, weil er das System in Frage gestellt hat.

Die wachsende Mittelschicht akzeptierte diesen Konsens und das damit verbundene politische Modell, weil sich dadurch ihre Lebensumstände deutlich verbesserten; die breite Masse der Bauern und Fabrikarbeiter akzeptierte ihn als Abbild des Ganges der Welt und überhaupt verbesserte sich auch ihr Los sichtlich im Laufe der Jahre, als die Geldwirtschaft in den zuvor sich selbst versorgenden Dörfern Einzug hielt, das Straßen- und Stromnetz sich auch in die entlegendsten Ecken des Königreiches ausdehnte und sich in den Städten neue Arbeitsmöglichkeiten für nicht mehr benötigte Landarbeiter auftaten. Außerdem – wie hätten bei einem Establishment, das sich einig war und die Hebel der Macht in den Händen hielt, die Bauern und Arbeiter das System denn überhaupt ändern können, selbst wenn sie es gewollt hätten?

Allerdings - falls dieses System der Lenkung durch eine Elite Thailand auch in Zukunft weiter beherrschen sollte, dann wird Thailand niemals sein volles Entwicklungspotential als Nation ausschöpfen können, denn der größte Teil der Bevölkerung ist nur teilweise in das Alltagsgeschäft der Gesellschaft eingebunden. Diejenigen unter den asiatischen Staaten, die rasche Fortschritte gemacht haben (Japan, Korea, Taiwan, Singapur, Hongkong und bis zu einem gewissen Grad auch Malaysia) haben den größten Teil ihrer Bevölkerungen auf das Niveau der Mittelklasse gebracht, indem sie ihnen eine gute Ausbildung und soziale Fürsorge angedeihen ließen, eine Landreform durchführten und für eine relativ ausgeglichene Verteilung von Reichtum, Macht, etc. sorgten. In Thailand scheint dagegen diese umfassende Weitsicht zu fehlen. Mitte der 1990er Jahre, als Amnuay Virawan Stellvertretender Premierminister und „Wirtschaftszar“ war, sah es vielmehr danach aus, daß die Arbeitskosten auf ein Niveau steigen könnten, das den Profit von Fabrikbesitzern in arbeitsintensiven Sparten schmälern würde. Anstatt nun diese Betriebe dazu anzuhalten, ihre Produktivität zu erhöhen, so daß sie den Arbeitern die höheren Löhne zahlen konnten, war Amnuays Antwort auf dieses „Problem“, den Fabriken zu erlauben, ausländische Arbeiter aus Nachbarstaaten wie Kambodscha oder Birma einzustellen, dadurch die thailändischen Löhne zu unterlaufen und so deren Senkung zu erzwingen. Sollte die breite Masse der Thais auf das Niveau ihrer Kollegen in Korea und Taiwan gelangen, dann geriete die komfortable hierarchische Sozialstruktur in Gefahr. Und das könnte wiederum die privilegierte Position der Elite unterminieren und zu einer stärker leistungsorientierten Sozialstruktur führen.

Dies waren meine Gedankengänge über Thailand in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Ich erinnere mich noch daran, daß ich diese Überlegungen einmal in einem lockeren Gespräch einem Farang-Freund mitgeteilt habe. Als ich damit fertig war, sagte er: „Okay, Jim, vielleicht hast Du ja recht. Aber wenn das so ist, dann hoffe ich stark, daß sich nie etwas ändert, denn mir gefällt das genau so, wie es ist.“ Das war eine sehr ehrliche Feststellung, denn wir Farangs haben ja im allgemeinen auch davon profitiert, wie dieses System nun mal funktioniert, und infolge dessen Thailand als einen äußerst angenehmen Platz zum Leben empfunden (und die USA spielten im Rahmen ihrer Maßnahmen zur Bekämpfung des Kommunismus in Indochina in den 50er bis 70er Jahren eine wichtige Rolle bei der Pflege dieses Konsens und förderten die Kontrolle des Landes durch die Eliten). Ich versicherte meinem Freund, daß er sich keine Sorgen machen müsse, da ich kaum Ansätze dafür sähe, daß in den nächsten paar Jahren irgend etwas passieren könnte, das dieses System grundlegend ändern würde – die Elite hatte das Land unter ihrer Kontrolle, das System war bestens eingefahren und die braven Thais vom Lande scheuten sich davor, daran stärker zu rütteln. Schließlich hatte man ihnen ja von der Grundschule an eingebleut, daß zu viele respektlose Fragen nicht vereinbar wären mit ihrer Kultur.

Heute bin ich immer noch davon überzeugt, daß meine Analyse des Systems, das in Thailand vorherrschte, korrekt war, habe mich aber total getäuscht bei der Annahme, daß nichts geschehen werde, was dieses in Frage stellen könnte. Ein Mann namens Thaksin betrat nämlich die Bühne. Und seitdem ist in Thailand nichts mehr, wie es einmal war. Innerhalb weniger Jahre wurde aus einem Land voller ideologischer Harmonie eine tief gespaltene Nation. Der gerissene Thaksin hatte erkannt, daß die Mehrzahl der Wähler auf dem Land lebt und daß diese in den vergangenen Jahrzehnten eines ständigen wirtschaftlichen Aufschwungs zu einem schlafenden, aber dennoch unruhigen Riesen geworden war, der nur darauf wartete, geweckt zu werden. Und nachdem sie nun einmal geweckt worden ist, ist diese ländliche Wählerschaft nicht mehr in ihren Schlafzustand zurückgekehrt.

Man kann sich noch gut erinnern, daß Thaksin bei seinem ersten Wahlkampf nicht nur von den Massen auf dem Land unterstützt worden ist, sondern auch von einer Anzahl fortschrittlich denkender und verantwortungsbewußter Intellektueller in Bangkok, die in ihm einen neuen Typ von Politiker sahen, der Thailand vielleicht einige der Änderungen bescheren würde, von denen sie wußten, daß sie notwendig sind, wenn Thailand eine moderne, im 21. Jahrhundert konkurrenzfähige Nation werden wollte. Dies ist wichtig, denn es zeigt, daß vor zehn Jahren ein Teil der Bildungselite in Thailand sich der Notwendigkeit eines Wandels im Lande wohl bewußt war und daran zweifelte, daß Leute wie Chuan zu einer visionären Lenkung des Landes fähig sein würden, weshalb sie ihre Hoffnungen auf Thaksin als den großen Veränderer setzten.


Die Tragödie besteht darin, daß sich Thaksin als falscher Prophet erwiesen hat – ein korrupter und egoistischer Demagoge, der zwar die potentielle Macht der ländlichen Wählermassen erkannt hat, diese Erkenntnis aber nicht nutzte, um die Natur der Thai-Gesellschaft von Grund auf zu verändern. Für mich scheint seine Motivation eine komplexe Mischung zu sein aus einem echten Interesse, das Wohl der Nation zu fördern und der Gier nach Macht und persönlichem Reichtum. Ich sehe ihn durchaus ambivalent – weder als den Messias, der er sogar noch heute in den Augen seiner Anhänger auf dem Lande ist, noch als die Verkörperung des Bösen, als den ihn die Bangkoker Eliten ansehen. Was auch immer seine wahre Natur ist, so hat er doch einige gute Dinge umgesetzt, wie die Krankenversorgung für die Armen und das Projekt „Ein Tambon – ein Produkt“, aber er wurde auch immer korrupter, intoleranter und selbstherrlicher in seinem Regierungsstil. Die Presse wurde immer mehr eingeschüchtert, die Justiz und andere unabhängige Bereiche der Regierung wurden untergraben und Verletzungen der Menschenrechte kamen immer offensichtlicher vor.

Trotzdem wurde bei den Wahlen 2005 Thaksins Partei mit der größten Mehrheit wiedergewählt, die ein politischer Führer in Thailand je bei einer Wahl errungen hat. Die Demokratische Partei – im Prinzip die einzige verbliebene, organisierte Opposition im Parlament – hatte sich seit Thaksins Wahl 2001 als unfähig erwiesen, ihre Vorgehensweise und ihr Image zu überdenken oder den Wählern auf dem Lande auch nur irgendeine glaubwürdige Alternative zu Thaksin zu bieten. Die gebildete Mittel- und Oberschicht in Bangkok grollte zwar heftig, aber mein eigenes Empfinden war damals, daß sie entweder eine glaubwürdige politische Alternative zu Thaksin aufbauen müßten oder sich damit abzufinden hätten, daß sie unter diesem Mann eine ganze Weile würden leben müssen – als unvermeidlichen Preis dafür, daß sie dabei versagt hatten, eine umfassende nationale Vision zu entwickeln, die auch die ärmere Mehrheit der Wähler erreichte und einband, die sich folglich nun Thaksin als ihrem politischen Idol zuwandten.

Freunde in Bangkok erwiderten, daß Thaksin nur wegen der Macht seines Geldes gewählt worden sei und daß die Wähler bestochen worden seien. Aus eigener Erfahrung im Dorf Baan Ton Thi bei Chiang Rai kann ich dazu sagen, daß Thaksins Thai-Rak-Thai-Partei tatsächlich vorgeworfen wurde, jedem Dorfbewohner 500 Baht für seine Stimme bezahlt zu haben, aber aus Gesprächen mit den Dorfbewohnern weiß ich auch, daß diese wirklich schätzten, was Thaksin für sie tat, und daß sie bei ihm das Gefühl hatten, er sei der erste thailändische Politiker, der mit ihnen über ihr eigenes Wohlergehen sprach und seine Versprechen einhielt. Wie einflußreich die PR-Maschinerie von Thaksin ist, sieht man dadurch, daß bei den Dorfbewohnern alle guten Dinge, die im Königreich passieren, Thaksin zugeschrieben werden. Als ich die Dorfbewohner fragte, ob es denn nicht stimmen würde, daß Thaksin äußerst korrupt sei, kam immer die schmunzelnde Antwort: „Natürlich ist er korrupt – das sind schließlich alle Politiker, aber er ist der erste korrupte Politiker, der auch für uns etwas getan hat.“ Bis heute werden die Korruption, die Mißbräuche und der persönliche Reichtum von Thaksin von seinen Anhängern auf dem Lande unter den Teppich gekehrt – nicht abgestritten, sondern schlicht als unwichtig betrachtet.

Der gegenwärtige Konflikt:

Die turbulenten Ereignisse nach dem Sieg der Thai-Rak-Thai-Partei im Jahre 2005 und der gegenwärtige Konflikt, in dem Dutzende Zivilisten starben und hunderte verletzt wurden, sind bestens bekannt und müssen daher hier nicht mehr erläutert werden. Das Ergebnis dieser Ereignisse war ein Zusammenbruch des sozialen Konsens, der in Thailand geherrscht hatte, bevor Thaksin an die Macht kam. Eine weitere Folge war, daß die Politik, die bis dahin – wie von mir beschrieben – als ein Spiel zwischen den einzelnen Gruppierungen der mächtigen Eliten der Gesellschaft ablief, sich nun zu einer Angelegenheit auch der Massen wandelte, an der auch der Durchschnittsbürger auf der Straße sich inzwischen mit entschlossener Ernsthaftigkeit beteiligt. Der Großteil der Bevölkerung wurde von Thaksin aus seiner politischen Lethargie gerissen. Sie sind sich nun darüber bewußt geworden, daß der Ausgang von Wahlen und andere Aspekte der Regierung unmittelbaren Einfluß auf ihr Leben haben und daß sie auch in der Lage sind, den Ausgang dieser Wahlen zu beeinflussen. Des weiteren sind die Wähler auf dem Lande der Ansicht, daß der Militärputsch, der Thaksin im September 2006 entmachtete, die beiden Gerichtsurteile, die in 2008 nacheinander die Regierung Samak (wegen Annahme eines Honorars für einen Auftritt in einer Fernseh-Kochshow) und die Regierung Somchai (dessen Volksmacht-Partei als Nachfolgerin der verbotenen Thai-Rak-Thai-Partei wegen Wahlbetrugs aufgelöst wurde) und das Zusammenflicken einer neuen Regierung Abhisit unter der Führung der Demokraten im Dezember 2008 ihnen de facto ihre politischen Rechte entzogen und ihre Wahlstimmen wertlos gemacht hätten. Früher hätten sie vermutlich einfach akzeptiert, daß dies eben so läuft in einer hierarchischen Gesellschaft, und daß sie daran eh nichts ändern können.

Aber die Zeiten haben sich geändert. Wie Bill Klausner ausführlich beschrieben hat, hat sich die kleine, begrenzte Welt der Thaidörfer auf dem Lande, die er in den 1950er Jahren kennengelernt hatte, in der Geister und Amtsträger bei Laune gehalten werden mußten und eine traditionelle, selbstgenügsame Lebensweise von Generation zu Generation fast unverändert weitergegeben wurde, dramatisch verändert. Mittlerweile haben die Dorfbewohner Anschluß an den Rest der Welt über Fernsehen, Mobiltelefone und Pick-Ups sowie durch Familienmitglieder, die zeitweise ihr Geld mit Jobs in Bangkok verdienen. Viele Taxifahrer, die alle aus Dörfern in Thailands Nordosten kamen, erzählten mir: „Wir sind wirklich nicht so dumm, wie die Stadtbewohner meinen. Wir waren zwar mal dumm, aber das ist vorbei.“ Sie sind zu dem Schluß gekommen, daß alle Institutionen der Regierung gegen sie aufgeboten wurden, um die Interessen des Establishments (das nun auf Thai „Amat“ genannt wird) zu schützen: Die Armee, die gegen Thaksin putschte und 2008 still hielt, als die Gelbhemden den internationalen Flughafen und den Regierungssitz besetzten, 2010 dann aber die Demonstrationen der Rothemden mit Soldaten niederschlug; die neue Verfassung, die dem Land mehr oder weniger aufgezwungen wurde, als es 2007 unter der Herrschaft der Militärs stand, und die lediglich dazu gedacht war, die Politik zugunsten der „Amat“ zu beeinflussen; die politischen Gerichtsurteile, die anscheinend immer die „Amat“ begünstigten und sich kaum um die Belange des kleinen Mannes scherten; und die Schachereien des Militärs hinter den Kulissen, durch die im Dezember 2008 die Demokraten mittels einer wenig überzeugenden Koalition mit einem von Thailands fragwürdigsten Politikern, nämlich Newin, an die Macht kamen. Und wie die wütenden Angriffe auf Kronrat Prem zeigen, sind inzwischen selbst Kreise des Palastes unter Verdacht geraten, parteilich zu sein.

Wie bereits erwähnt, hat es in Thailand während der vergangenen Jahrzehnte eine beeindruckende wirtschaftliche Entwicklung gegeben, die auch das Leben der Dorfbewohner gewaltig verändert und ihnen das Gefühl einer potentiellen Stärkung und einen klareren Blick für ihre Rechte und Interessen gegeben hat. Thailand ist kein armes Land mehr und Bangkok hat sich zu einer reichen Weltstadt gewandelt. Aber die politischen Institutionen des Landes haben sich nicht in gleichem Maße entwickelt wie der wirtschaftliche und soziale Fortschritt. Seit der Revolution von 1932, als sich das Land von einer absoluten zu einer konstitutionellen Monarchie wandelte, hat das Pendel der politischen Geschichte Thailands immer wieder zwischen einer konservativen Diktatur, die in der Regel von der Armee gestützt wurde, und einer stärker demokratisch ausgerichteten Form der Administration ausgeschlagen. Sobald eine eher demokratische Regierungsperiode aus dem Ruder läuft, wird sie durch eine Herrschaft des Militärs abgelöst – stets mit dem Versprechen, wieder zu demokratischen Regierungsformen zurückzukehren, sobald die Zeit reif dafür ist. Das Pendel ist immer zwischen diesen beiden Polen hin und her geschwungen, aber mit jedem Ausschlag in Richtung Demokratie haben mehr Leute Zugang zu politischer Macht erhalten, so daß ab den 1990er Jahren die neue städtische Mittelklasse voll in den politischen Prozeß eingebunden und daher im allgemeinen recht glücklich über die politische Richtung war, die das Land eingeschlagen hatte.

Das wirtschaftliche Wachstum und die soziale Modernisierung schritten jedoch wesentlich weiter voran als die Weiterentwicklung der politischen Institutionen. Thaksin hat das erkannt und nutzte es zu seinem Vorteil, um der erfolgreichste Politiker zu werden, den Thailand je gesehen hat. Trotz seines autoritären und demagogischen Stils eröffnete er auch der gesellschaftlichen Unterschicht eine Aussicht auf volle politische Mitwirkung – sowohl auf dem Land, als auch in den Städten. Zum einen, weil dies die Kontrolle, die die Bangkoker „Amat“ und die mit ihr verbündete städtische Mittelklasse ausübte, bedrohte, zum anderen, weil Thaksin einfach überzog, schlug die „Amat“ schließlich zurück – zunächst mit dem anachronistischen Militärputsch von 2006, danach mit einer Reihe von Aktionen, die darauf abzielten, diejenigen Parteien aus dem Verkehr zu ziehen, die von der Mehrheit der Wähler unterstützt wurden. Das Establishment wollte die politischen Auswirkungen der veränderten sozialen und ökonomischen Bedingungen im Lande nicht akzeptieren und hat versucht, die Uhr zurückzudrehen und den alten Zustand wieder herzustellen – oder mit anderen Worten, zu der komfortable Welt zurückzukehren, die sie kontrolliert und genossen hatten, bevor Thaksin kam, und die ich zu Beginn dieser Abhandlung beschrieben habe.

Betrachtet man weltweit historische Beispiele aus den letzten zweihundert Jahren, so erkennt man, daß, sobald die Mittelklasse sich etabliert hatte (wie in Thailand geschehen), auch die Unterschichten eine gerechte Behandlung und eine angemessene Mitsprache in der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik forderten. In einigen Ländern ließen die Eliten und die Mittelklasse dies zu und die volle Einbindung der Mehrheit der Bevölkerung in das Alltagsgeschäft verlief friedlich und führte zu Stabilität, Wohlstand und einem Einbringen aller in das System. Die meisten Länder Westeuropas gingen diesen Weg, ebenso die USA mit dem New Deal, dem Fair Deal und der Great Society. In anderen Ländern, wie Rußland und China, erfolgte eine Veränderung erst im Zuge einer gewaltsamen Revolution und eines radikalen sozialen Umbaus. Aber in allen Fällen kam es zu einer Veränderung. (Man vergißt dabei gerne die bittere Armut, die in den 1920er und 1930er Jahren in weiten Teilen Amerikas herrschte. Noch 1964, als ich an einer US-Universität mit dem Studium der Wirtschaftswissenschaften begann, war ein wichtiges Thema bei unseren Studien, wie man die untersten 20% der amerikanischen Gesellschaft aus ihrer tiefen Armut befreien könnte – z.B. in den Vorlesungen von Michael Harrington mit dem Thema „Das andere Amerika“).

Ein Großteil der Elite Thailands, der ein Verfechter des thailändischen Partikularismus (dazu später mehr) ist, setzt sich mit den Auswirkungen dieser historischen Prozesse in anderen Ländern erst gar nicht auseinander. Tausende von Thais – zumeist aus der Ober- und Mittelschicht – waren bereit, Zeit und Geld zu opfern für die illegale Besetzung des Regierungssitzes und der beiden internationalen Flughäfen Bangkoks. Sie waren davon überzeugt, „besser zu wissen“, was für das Land gut sei, und daher waren in ihren Augen ein Staatsstreich und die illegale Inbesitznahme öffentlichen Eigentums gerechtfertigt, um Thaksin und seine Anhänger oder Stellvertreter daran zu hindern, das Land zu regieren. Als ich einigen dieser Leute vorwarf, daß sie mit Gewalt versuchten, einer korrekt gewählten und ins Amt eingesetzten Regierung die Gefolgschaft zu verweigern, haben diese entgegnet: „Aber Jim, diese Wähler haben doch keine Bildung,“ und damit unterstellt, daß man ungebildeten Bauerntölpeln ja schließlich nicht die Entscheidung darüber überlassen könne, wer das Land regieren solle. Natürlich bedeutet ungebildet nicht, daß derjenige auch dumm ist. Es bedeutet auch nicht, daß dieser nicht in der Lage ist, zu erkennen, wo die Interessen von jemandem liegen. Außerdem – wenn die Mehrheit im Lande ungebildet ist, dann muß man sich schon fragen, was die Regierung in den letzten fünfzig Jahren eigentlich überhaupt getan hat, wenn sie es schon trotz Wirtschaftwachstum versäumt hat, ausreichende Mittel bereitzustellen für eine angemessene Ausbildung des größten Teils der Einwohner des Landes. Bei weiterem Nachfragen würden diese Anhänger der Gelbhemden schließlich zu mir sagen: „Also, wenn Demokratie bedeutet, daß die Mehrheit der Bevölkerung die Regierung wählt, dann bin ich gegen diese Art von Demokratie hier in Thailand.“ Zumindest ist diese Aussage ehrlich, und das ist exakt das, was der rechte Flügel der Gelbhemden, die PAD, möchte – eine Beschneidung der politischen Rechte der Mehrheit zugunsten einer „Demokratie“, die von den Eliten geführt wird. Schließlich hatte das doch in den fünfzig Jahren vor Thaksin recht gut funktioniert – wahrscheinlich am besten unter der Führung von Premierminister Prem in den 1980er Jahren, als das Land friedlich und stabil war, jeder die Zukunft des Landes optimistisch sah und einverstanden damit war, in welche Richtung die Entwicklung unter fähigen Technokraten lief.

Nachdem nun die wichtigsten historischen Kräfte beschrieben wurden, die hinter diesen Protesten zu stecken scheinen, und Argumente dafür ins Feld geführt wurden, wie berechtigt viele der von den Demonstranten vorgebrachten Klagen sind, darf man andererseits aber auch auf keinen Fall die Augen verschließen vor dem beträchtlichen Ausmaß der Gewalttaten, die am Songkran 2009, am 10. April 2010 und am Brandstiftungs-Nachmittag des 19. Mai 2010 - nur Stunden, nachdem die Führung der Rothemden sich ergeben hatte - stattgefunden haben. Neben den gewaltsamen Ausschreitungen besteht natürlich auch noch die Tatsache, daß die wochenlange Besetzung und Lahmlegung von Bangkoks Handelszentrum ganz klar ein illegaler Akt war, der massive negative Auswirkungen auf Thailands Wirtschaft und die Lebensumstände der zahlreichen thailändischen Angestellten in den Hotels und Geschäften, die deshalb schließen mußten, hatte. Dazu vier Anmerkungen:

1. Der Präzedenzfall eines zivilen Ungehorsams, der illegal öffentliche Plätze besetzt, wurde 2008 von den Gelbhemden geschaffen, als diese den Premierminister monatelang aus seinen Amtsräumen im Regierungssitz aussperrten und später mehrere Tage lang die Flughäfen Suwannaphum und Don Müang lahmlegten, wodurch sie sowohl den Ruf Thailands in der Welt, als auch die thailändische Wirtschaft schädigten. Sie zogen dabei wohl nicht in Betracht, daß die Gegenseite ihre Taktik einmal kopieren könnte.

2. Wie bereits Thongbai Thongbao in der Bangkok Post geschrieben hat – hätten die Rothemden friedlich eine öffentliche Parkanlage irgendwo in Bangkok besetzt, wo sie der Bevölkerung keine Unbequemlichkeiten bereitet und auch die Wirtschaft nicht getroffen hätten, dann hätte sich die Regierung herzlich wenig um sie gekümmert und über kurz oder lang wäre ihr Elan unter der sengenden Tropensonne der trockenen Jahreszeit dahingeschmolzen und sie hätten letztlich gar nichts erreicht. Wenn man gegen ein gut verschanztes, uneinsichtiges Establishment demonstriert, dann muß man auch etwas unternehmen, was dieses dazu zwingt, einem Aufmerksamkeit zu schenken, sonst ist das Ganze vergeblich.

3. Die Brandstiftungen am letzten Nachmittag waren eindeutig im Vorfeld von der Führung der Rothemden geplant worden, und gingen weit über das hinaus, was als berechtigter ziviler Ungehorsam zu rechtfertigen ist. Das Gleiche gilt auch für die Attentate durch Scharfschützen und Granaten, von denen zumindest ein Teil (wie z.B. der Angriff auf das Dusit-Thani-Hotel) ebenfalls von den Rothemden verübt wurde.

4. Einige Kommentatoren haben geschrieben, daß die Brandstiftungen und die übrigen, mit Kriegswaffen begangenen Gewalttaten der gesamten Rothemden-Bewegung jegliche Legitimation entzögen. Damit stimme ich nicht überein. Über die hirnlosen Verwüstungen einfach mit der Anmerkung hinweg sehen, daß die überwältigende Mehrheit der Demonstranten, wie weiter unten berichtet, sich ja friedlich, ordentlich und engagiert für ihr Anliegen verhalten habe, kann man aber auch nicht.

Noch ein letzter Punkt zum Thema „Gewalt“. Es gab Kritik an der Armee, sie habe ein Übermaß an Gewalt angewendet, um die Demonstration aufzulösen. Ich bin kein Experte für solche Dinge, aber es ist eindeutig, daß die Armee sich mehrere Wochen lang weigerte, einzuschreiten, und darauf bestand, daß die politischen Probleme durch politische Maßnahmen zu lösen seien. Als der Oberkommandierende Anupong schließlich Abhisits Forderung, die Demonstranten zu vertreiben, nachgab, hatte ich den Eindruck, daß man sich dabei alle Mühe gab, diese schwierige Aufgabe mit einem Minimum an Gewalt zu lösen. Auf jeden Fall sind militärische Aktionen allein von ihrer Art her nie friedliche Maßnahmen, daher sind dabei auch Verluste nie ganz zu vermeiden, egal, wie behutsam man dabei vorgeht. Die Verantwortung für die 89 Toten und mehrere hundert Verletzten liegt aber letzten Endes bei der politischen Führung, die sich für eine militärische Lösung entschieden hat.

Die Rothemden:

In all den emotionsgeladenen Debatten über die Mühen der Politik in Thailand sind vermutlich die am schwersten zu durchschauenden und am heftigsten umstrittenen Themen die Natur, die Zusammensetzung und die Führung der Rothemden. Auf der einen Seite stehen die, die behaupten, die Demonstranten würden für ihre Teilnahme bezahlt und seien stark durchsetzt mit schwerbewaffneten "Terroristen", die von Extremisten geleitet und kontrolliert würden, die ihre Befehle direkt von Thaksin erhielten. Auch wenn diese zugeben, daß ein Großteil der Demonstranten aus einfachen Bauern aus dem Nordosten und Norden besteht, so hält man dort doch an der Meinung fest, daß diese von Thaksins Anhängern über die regionalen Radiosender und die endlosen Reden an der Ratchaprasong einer "Gehirnwäsche" unterzogen oder zumindest in die Irre geführt worden seien und daß diese einen zu geringen Bildungsstand hätten, um Thaksins Propaganda durchschauen zu können. Mit anderen Worten – sie seien nur manipulierte Schachfiguren in einem zynischen Spiel. Da die Demonstrationen anscheinend gut organisiert waren, reichlich Geld dahinter stand und von einigen Demonstranten auch Gewalttaten begangen worden sind, kann man diese Gedankengänge auch nicht als vollkommen abwegig abtun. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die in ihrer Argumentation die Demonstranten als durchweg friedlich hinstellen, was sicher auch nicht richtig ist. Vermutlich liegt die Wahrheit irgendwo zwischen diesen beiden Extremen.

Um einen besseren Eindruck von der Situation zu bekommen, spazierte ich am Sonntag, den 9. Mai, bevor die Blockade durch das Militär begann, durch das Feldlager der Rothemden und unterhielt mich mit den Demonstranten. Mit Ausnahme der Sicherheitskräfte in ihren schwarzen Uniformen waren sie freundlich, höflich und äußerst überzeugt von ihrer Sache. Des weiteren war das gezeigte Niveau an Organisationsvermögen, das erforderlich war, um tausende von Demonstranten, die auf Bangkoks Straßen ihr Lager aufgeschlagen hatten, zu versorgen und zu betreuen, einfach beeindruckend.

Was die Motive der echten Demonstranten angeht, bieten sich in erster Linie drei Erklärungen an:

1. Sie wurden für ihre Anwesenheit bezahlt. Obwohl viele Unterstützung erhielten, kann ich mir nicht vorstellen, daß finanzielle Anreize allein diese Bauern dazu bewegen könnten, zwei Monate lang in drückender Sommerhitze auf den Straßen von Bangkok zu campieren, geschweige denn, ihr Leben und ihre Gesundheit zu riskieren. Daher schließe ich für meinen Teil bei den meisten von ihnen finanzielle Zuwendungen als den entscheidenden Motivationsfaktor aus.

2. Sie wurden dadurch motiviert, weil sie ihre wirtschaftliche Lebenssituation verbessern wollten in der Hoffnung, daß eine neue Regierung auch eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation mit sich bringen würde. Einige westliche Kommentatoren haben internationale Statistiken angeführt, nach denen die thailändischen Bauern wesentlich besser dastehen als viele ihrer Kollegen in anderen Teilen der Welt, es unter den thailändische Bauern nur verhältnismäßig wenig totale Armut gibt und das Ausmaß der Ungleichheit in Thailand im internationalen Maßstab gesehen unspektakulär ist. Totale Armut mag tatsächlich in Thailand eher selten sein, aber Chris und Pasuk Baker haben darauf hingewiesen, daß die Einkommen in Thailand zwischen den reichsten 20% und den ärmsten 20% um das 13-15fache differieren und der Wohlstand um den Faktor 70 auseinander klafft. Es gibt also ganz klar eine beträchtliche Streuung bei den Einkommen und ein problematisches Wohlstandsgefälle in Thailand, aber zugleich kamen mir die Rothemden, mit denen ich gesprochen habe, nun auch nicht gerade hoffnungslos verarmt vor.

3. Sie wurden dadurch motiviert, weil sie sich ein gerechteres politisches System wünschen – ein Ende der politischen Dominanz der „Amat“ und des doppelten Standards in Thailand, wodurch die Reichen und Mächtigen sich alles erlauben können und die Armen wenig Möglichkeiten haben, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen oder ihre politischen Rechte in vollem Umfang auszuüben.

Im Gegensatz zu den Behauptungen der Gelbhemden, daß die Rothemden ungebildet und leicht zu manipulieren seien, hatte ich bei meinen Unterhaltungen mit Bauern, zahllosen Taxifahrern (fast alle von denen kommen aus Dörfern im Nordosten), meinem Hausmädchen in Bangkok (für jeden Ausländer die Hauptquelle für Einblicke in das politische Denken der Rothemden!) und einer Reihe weiterer Gesprächspartner den Eindruck, daß die Rothemden und ihre Anhänger sich sehr wohl ausdrücken können und klare Vorstellungen davon haben, was mit dem Land und der von den Demokraten geführten Regierung Abhisit nicht in Ordnung ist. Bis zu einem gewissen Grad kamen auch wirtschaftliche Dinge zur Sprache (mein Dorf bei Chiang Rai hängt völlig von den Preisen für Feldfrüchte ab und man ist da der Meinung, daß Thaksin sich um dieses Problem auf eine ganz andere Weise kümmern würde, als es Abhisit tut), aber die meisten machten dabei nur ihrem Groll Luft über die "Amat", die zweierlei Standards und die Tatsache, daß ihre Wählerstimmen durch den Militärputsch, Gerichtsurteile und politischen Kuhhandel hinter den Kulissen entwertet wurden. Trotz all ihrer Parolen haben sie aber nicht unbedingt ein hoch entwickeltes Verständnis dafür, was Demokratie eigentlich ist – sie haben jedoch ein klares Gespür dafür, wie sehr ihre politischen Bürgerrechte mit Füßen getreten und dadurch die Reichen und Mächtigen von der Regierung bevorzugt werden.

Ihre Fähigkeit, sich zu diesen Dingen zu äußern, verdanken sie meiner Meinung nach zum größten Teil den lokalen Radiosendern, die ihre Wurzeln auf dem Lande haben. Vielleicht ist das die "Gehirnwäsche", von der die Gelbhemden sprechen – auf jeden Fall stellt dies aber den "Konsens" in Frage, der allen Thais schon von Kindesbeinen an eingeimpft worden ist. Und es hat dazu geführt, daß viele Thais vom Lande, die zuvor politisch passiv waren, ein starkes politisches Bewußtsein entwickelt haben. Ob dies als gut oder schlecht empfunden wird, ist letztlich eine Frage der Perspektive und der persönlichen Interessenlage. In den vergangenen 50 Jahren hat es die Regierung hervorragend verstanden, allen den oben beschriebenen "Konsens" einzutrichtern, aber in den letzten zwei Jahren haben die Rothemden ganz unten an der Basis im Nordosten und Norden saubere Arbeit geleistet beim Aufbau eines politischen Widerstandes und der Hinterfragung dieses Konsens in den Köpfen der einfachen Leute. Das Establishment war natürlich immer glücklich gewesen über die politisch träge und fügsame Landbevölkerung und ist nun verärgert über den Umstand, daß die Bauern der Meinung sein sollten, daß ihnen ein echtes Mitspracherecht zustehe bei der Führung des Landes.

Aber die Rothemden-Bewegung besteht schon längst nicht mehr nur aus Bauern und der Arbeiterschaft in den Städten. Sie zieht auch immer mehr Teile der urbanen Mittelklasse an, darunter auch thai-chinesische Ladenbesitzer, und sogar ein paar Leute aus den Reihen der Oberschicht. Diese neuen Anhänger sind zwar weiterhin ganz entschiedene Gegner von Thaksin und sie distanzieren sich auch vom gewaltsamen Vorgehen einiger Rothemden am letzten Tag der Proteste an der Ratchaprasong und der unüberlegten Durchsuchung des Chula-Krankenhauses. Aber die Demonstrationen haben bei ihnen ein intensives Nachdenken angeregt darüber, was in ihrem Land schief läuft, wodurch sie empfänglich wurden für die Idee der Notwendigkeit einschneidender Änderungen und bereit, einzusehen, daß die Proteste der Rothemden aus legitimen Anliegen entstanden sind – auch wenn sie deren Methoden nicht billigen oder viele von deren Führern ablehnen.

Ein erwähnenswerter Punkt ist, daß sich in der Führungsmannschaft der Rothemden auch einige Personen befinden, die ein paar Jahre lang dem kommunistischen Widerstand der späten 1970er Jahre (der sogenannten "Oktober-1976-Generation") angehört haben. Diese Idealisten, die als Studenten die Brutalität des Militärs erlebten, mußten im wahrsten Sinne des Wortes in die Berge fliehen, wo sie sich dann einige Jahre lang dem kleinen, harten Kern des kommunistischen Aufstandes anschlossen. Eine Kombination aus Desillusionierung über die Kommunisten und der großzügigen, von Prem und Kriangsak in die Wege geleiteten Amnestie ließ sie dann wieder in ein normales Leben in den Städten zurückkehren, wo einige Bankiers und Börsenhändler wurden, andere in ihrem Idealismus die "Landarzt"-Bewegung unterstützten, die sich um die gesundheitlichen Bedürfnisse der armen Landbevölkerung kümmerte, und wieder andere in die Politik gingen. Aber ihre Erlebnisse in den 1970er Jahren haben sie geprägt und einige, die heute in der Rothemden-Bewegung in vorderster Front stehen, tragen immer noch die emotionalen Narben und die Verbitterung aus dieser vergangenen Epoche der Unterdrückung durch rechtsgerichtete Kräfte mit sich herum.

Es ist eine Menge geschrieben worden zu der Frage, ob es sich bei den Unruhen um eine Art Klassenkampf gehandelt habe oder ob sie eher als ein Konflikt zwischen Stadt und Land oder vielleicht auch Bangkok gegen den Rest des Landes anzusehen seien. Es gab Kritik von Ausländern, die sich (wie auch ich hier in dieser Abhandlung) zu dem "Rothemden-gegen-Gelbhemden"-Konflikt geäußert haben, wo es hieß, daß man hier ganz deutlich erkennen könne, wie wenig Ausländer eigentlich von den komplexen Vorgängen, die da gerade in Thailand ablaufen, verstehen. Die Situation ist tatsächlich sehr kompliziert und verwirrend, und jeder Versuch einer Verallgemeinerung bringt dann wieder irgendwelche Ausnahmen mit sich und erweist sich an irgendeiner Stelle wieder als irreführend – es gibt einige Angehörige der Oberschicht, die die Rothemden unterstützen; es gibt auch in Bangkok arme Leute, nicht nur auf dem Lande; und zudem paßt auch nicht jeder so einfach in eine der beiden Kategorien "Rothemd" oder "Gelbhemd". Man muß aber trotzdem einiges kategorisieren und verallgemeinern, um verstehen zu können, was da passiert. Es ist sicherlich wahr, daß die Rothemden in den Provinzen die meiste Unterstützung aus den Reihen der Bauern erhalten – wenn es also schon kein Klassenkampf ist, so sind doch zumindest die meisten der Demonstranten relativ schlechter gestellt als die "Amat", die sie bekämpfen. "Rothemden gegen Gelbhemden" wird zudem im allgemeinen sowohl von den meisten Thais, als auch von Ausländern als Kurzbegriff zur Beschreibung der beiden Haupt-Rivalen in dieser komplizierten Auseinandersetzung benutzt. Daher lohnt es meiner Meinung nicht, sich in Wortklaubereien darüber zu verlieren, wie man diesen Konflikt bezeichnen soll.

Ein weiterer Punkt, der Erwähnung verdient, ist, daß die Unruhen, die gegenwärtig Thailand heimsuchen, für viele anscheinend überraschend gekommen sind. Kein geringerer Experte für die thailändische Gesellschaft als Charles Keyes hat gesagt, daß die jüngsten Ereignisse ihn dazu zwingen würden, seine Sicht, die er in der Vergangenheit von der thailändischen Gesellschaft auf dem Lande hatte, zu überdenken. Das Maß an direkter Konfrontation, die verwendete, in hohem Maße den Konflikt anheizende Rhetorik und die Abneigung, sich auf Kompromisse einzulassen, scheinen ganz klar im Gegensatz zu stehen zu dem Bild, das man sonst im allgemeinen von der thailändischen Gesellschaft hat. Aber ich möchte mal behaupten, daß das doch nicht so ganz unvorhersehbar war und unter der Oberfläche der thailändischen Gesellschaft ein beträchtliches Potential an Gewalt und Intoleranz lauert. Man denke nur an die späten 1960er und frühen 1970er Jahre, in denen in einigen Teilen des ländlichen Thailands heftige, gewalttätige Konflikte tobten, als die Roten Gaur und andere rechtsgerichtete Gruppierungen rücksichtslos alle abschlachteten, die sie im Verdacht hatten, Kommunisten zu sein; an die Aufrufe des antikommunistisch eingestellten Mönches Kiiti, jeden Kommunisten umzubringen, was in krassem Widerspruch zu den Lehren des Buddhismus steht; und natürlich an das Massaker 1976 an den Studenten in der Thammasart-Universität.

Und wie paßt nun Thaksin in diese Rechnung? Er spielt eindeutig auch weiterhin die entscheidende Rolle im Hintergrund, und die meisten Rothemden fahren damit fort, ihm ihre Unterstützung zu versichern, trotz der Aufdeckung seiner Korruptionsfälle und der gegen ihn ergangenen strafrechtlichen Verurteilungen. Trotzdem hat die Bewegung inzwischen anscheinend in zunehmendem Maße damit begonnen, sich von Thaksin unabhängig zu machen, und die Ziele von Thaksin und diejenigen der Rothemden bewegen sich immer weiter auseinander. Thaksin scheint es vor allem darum zu gehen, sein beschlagnahmtes Vermögen zurück zu erhalten und seine persönlichen Rechtsangelegenheiten zu klären. Und für diese Ziele ist er anscheinend bereit, alles und jeden zu opfern. Dies ist vielleicht einer der Gründe, warum die Führer der Rothemden nicht bereit waren, den Kompromißvorschlag Abhisits anzunehmen, der Neuwahlen für den 14. November versprach. Wahlen hätten nämlich Thaksins Pläne nicht voran gebracht – er wollte lieber ein gewaltsames Ende ohne Kompromiß und hat daher möglicherweise der Führung der Rothemden befohlen, die Verhandlungen zu torpedieren.

Ich bin überzeugt, daß die Geschichte über Thaksin ein gemischtes Urteil fällen wird. Auf der positiven Seite hat er der Mehrheit der Thailänder die Politik nahegebracht, so daß das alte politische Spiel unter den Cliquen, das die Eliten bislang gespielt hatten, nicht mehr länger problemlos funktioniert. Und er führte einige Maßnahmen ein, die darauf abzielten, das Los der ärmeren Leute im Lande zu verbessern. Auf der anderen Seite muß er sich aber auch für seinen diktatorischen Führungsstil, die schlechte Behandlung der Moslems in Südthailand, die außergerichtlichen Tötungen mutmaßlicher Drogendealer und seine Bereitschaft, zur Erreichung seiner Ziele sogar das Leben anderer zu opfern, verantworten.

Aber die Regierung und die Gelbhemden haben Thaksin dämonisiert. Die Regierung Abhisit hat ungeheuer viel Zeit und Mühe darauf verwendet, ihn anzugreifen, was in den jüngsten Vorwürfen gegen ihn gipfelte, er sei ein „Terrorist“. Ich erinnere mich daran, daß, als Thaksin 2009 die Ernennung als Berater der Hun-Sen-Regierung annahm, die Regierung dachte, dies würde ihn in den Augen seiner Anhänger diskreditieren. Ich befand mich damals auf meiner Farm in Chiang Rai und war, was dies betraf, skeptisch. Als ich von Chiang Rai nach Bangkok zurückflog, fragte ich daher die Thailänderin aus der Mittelschicht (eine Einwohnerin von Chiang Rai), die neben mir saß, was sie denn von Thaksins Ernennung in Kambodscha halte. Sie seufzte und sagte: „Hat denn diese Regierung nichts besseres zu tun, als hinter Thaksin her zu sein? Man sollte doch meinen, daß sie ihre Zeit besser dazu nutzen sollte, das Land gut zu regieren, um so die Unterstützung des Volkes zu gewinnen.“

Viele Leute machen den Fehler, zu denken, daß man nur Thaksin kaltstellen müsse, damit die Rothemden-Bewegung in sich zusammenbricht und alles wieder so einfach wird, wie in den Zeiten vor Thaksin. Aber der Geist ist aus der Flasche und wird sich auch nie wieder in diese zurückzwingen lassen. Der alte Zustand würde sich nicht wieder einstellen, selbst wenn Thaksin sich tatsächlich aus der Politik zurückzöge, um stattdessen die einsamen Freuden seines Häuschens am Meer in Montenegro zu genießen. Je mehr die Regierung Thaksin verteufelt, umso mehr dient Thaksin als starkes Symbol für die Unzufriedenheit der Rothemden. Man muß sich mal fragen, was Abhisit eigentlich tun würde, sollte Montenegro tatsächlich beschließen, Thaksin an Thailand auszuliefern, wie von der thailändischen Regierung gefordert. Der Prozeß würde dann bestimmt zum Brennpunkt neuer Demonstrationen und Proteste.

Ein Problem haben die Rothemden allerdings. Außer Thaksin, der aber inzwischen zu stark polarisierend und moralisch zu fragwürdig geworden ist, um das Land noch einmal zu regieren, verfügen die Rothemden über keine Führungspersönlichkeiten, die fähig sein könnten, das Land effektiv zu führen, auch wenn einige von ihnen beachtliche taktische Fähigkeiten gezeigt hatten bei der Organisation und Leitung der Proteste. Genauso wenig findet man bei den Führern der Rothemden ein größeres Potential für eine neue nationale Vision oder die Herbeiführung einer Versöhnung, als bei Abhisit (über den weiter unten diskutiert wird). Dies wurde deutlich in den Parlamentsdebatten nach den Demonstrationen, die zu höchst unerfreulichen gegenseitigen Schuldzuweisungen verkamen. Die Aussicht, daß die Rothemden die Regierung übernehmen könnten, gibt keinen Anlaß zu mehr Zuversicht oder Begeisterung, als die gegenwärtige Regierung.

Die Gelbhemden:

Die Zusammensetzung der Anhängerschaft der Gelbhemden ist genauso komplex wie bei den Rothemden. Die Oberschicht ist fast durchwegs gelb, und wahrscheinlich auch die große Mehrheit der Bangkoker Mittelschicht. Die Mittelschicht auf dem Lande scheint sich dagegen auf Rot und Gelb zu verteilen (außer im Süden, der stärker gelb geprägt ist als andere Teile des Landes). Auch ein kleiner Teil der Dorfbewohner ist gelb – diese folgen einem tiefverwurzelten Loyalitätsempfinden gegenüber den traditionellen Institutionen.

Aber der harte Kern der Gelbhemden-Bewegung besteht aus der Bangkoker Aristokratie, den führenden Geschäftsleuten und den hochrangigen Beamten. Viele dieser Angehörigen der Oberschicht sind gegenüber den Rothemden außergewöhnlich intolerant. Sie differenzieren nicht zwischen den legitimen Anliegen der Demonstranten und den Interessen Thaksins und blicken auf die Demonstranten herab als einen zerlumpten Haufen bezahlter Krawallbrüder, mit denen es keinen Sinn macht, zu verhandeln. Die meisten von ihnen hatten bislang kaum mit Dorfbewohnern oder Arbeitern zu tun und wissen daher gar nicht, was diese denken. Sie hatten noch nicht einmal Gelegenheit gehabt, die Meinungen von Taxifahrern zu hören, denn diese Leute fahren ja nie mit Taxis. Ihre Unnachgiebigkeit erscheint mir das größte Hindernis auf dem Weg zu einer Aussöhnung im Lande.

Die Regierung Abhisit:

Der erste Punkt, den man hier betrachten muß, ist, ob die Regierung Abhisit rechtmäßig zustande gekommen ist oder nicht. Im Grunde ist es albern, zu behaupten, die Regierung sei nicht rechtmäßig zustande gekommen. In der Anfangsphase der Regierung Abhisit behauptete sogar der BBC-Journalist in Thailand, die Regierung habe keine rechtliche Basis, da sie nicht vom Volk gewählt worden sei. Der BBC sollte aber eigentlich klar sein, daß Thailand eine parlamentarische Demokratie hat, bei der die Wähler ja nur die Abgeordneten für das Parlament wählen. Diese haben dann das Recht, nach ihrem Belieben jede Person, die die rechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllt, für das Amt des Premierministers auszuwählen. Genau das passierte ja auch kürzlich in Großbritannien bei der Bildung der Regierung Cameron/Clegg, die nicht von den Wählern so gewählt worden ist, sondern zustande kam, weil sich nach der Wahl die beiden Parteiführer darauf geeinigt haben.

Der gleiche, rechtlich korrekte Vorgang fand auch statt, als Abhisit eine Regierungskoalition mit Newin und anderen von der Bhumjaithai, der Phuea Pandin und weiteren Parteien im Dezember 2008 aushandelte.

Aber tief drin sind viele Rothemden nicht bereit, die Legitimität der Regierung Abhisit zu akzeptieren und fühlen sich von dieser nicht vertreten. Die letzten Wahlen gab es Anfang 2008 unter einer neuen Verfassung, die dazu gedacht war, die Möglichkeiten der Nachfolgeorganisationen von Thaksins Thai-Rak-Thai-Partei, Wahlen zu gewinnen, einzuschränken. Aber trotzdem erhielt die Volksmacht-Partei als Nachfolgerin der verbotenen Thai Rak Thai erneut die meisten Wählerstimmen und konnte eine Koalitionsregierung bilden. Das Establishment schlug daraufhin zurück und bediente sich der Gerichte, um zuerst Premierminister Samak die für dieses Amt erforderliche Qualifikation abzusprechen und schließlich gegen Ende des Jahres die gesamte Volksmacht-Partei zu verbieten. Dieses Gerichtsurteil brachte in Verbindung mit monatelangen Demonstrationen und der illegalen Besetzung des Regierungssitzes und später auch noch des internationalen Flughafens schließlich auch die thaksinhörige Regierung unter Samaks Nachfolger Somchai zu Fall. Unter der Leitung von Armee-Oberbefehlshaber Anupong fand – vermutlich auf einem Militärstützpunkt – eine Reihe geheimer Verhandlungen statt, in denen Newin, der bei Wahlen zwar nicht selbst kandidieren durfte, aber im Hintergrund die Fäden bei der Bhumjaithai-Partei spann, überredet wurde, sich von Thaksin abzuwenden und in die Bildung einer Koalitionsregierung unter Führung von Abhisit und dessen Demokratischer Partei einzuwilligen.

Daher kann man die Gefühle der Leute auf dem Land schon verstehen, die den Eindruck haben, daß eine Justiz, die bei der Anwendung der Gesetze mit zweierlei Maß mißt, und das Militär die von ihnen gewählte Regierung ab- und stattdessen eine von Abhisit geführte Regierung eingesetzt haben, welche aber von den meisten Wählern auf dem Lande nicht anerkannt wird.
Nach ihrem Empfinden wurde zuerst Thaksin durch einen Militärputsch entmachtet, was natürlich nicht legal ist, aber im Nachhinein durch die neue Verfassung legalisiert wurde, die unter teilweise fragwürdigen Umständen durch ein Referendum in Kraft gesetzt wurde. Danach wurden dann Thaksins Stellvertreter, für die sie ja schließlich bei der Wahl gestimmt hatten, durch ein erneutes Eingreifen des Militärs – wenn auch diesmal durch Geheimverhandlungen anstelle von Wahlen – ebenfalls wieder von der Macht verdrängt.

Wenn sich die von der Demokratischen Partei geführte Regierung Neuwahlen stellen würde, könnte das der Ausweg aus dieser Legitimationsproblematik sein. Dagegen hat sich Abhisit bislang gesträubt – vermutlich, weil er fürchtet, daß seine Partei an den Wahlurnen nicht gut abschneiden würde. Als Begründung dafür, warum es keine Wahlen geben soll, hat er bislang allerdings eine Vielzahl anderer Argumente ins Feld geführt. Hätte er nach seinem Amtsantritt 2008 seine Versöhnungsappelle mit einer Amnestie für die 111 gesperrten Politiker aus Thaksins Anhängerschaft verbunden, die besten und fähigsten Führer der Rothemden dazu eingeladen, sich an einer Regierung der nationalen Einheit zu beteiligen, Neuwahlen binnen eines Jahres in Aussicht gestellt und Schritte unternommen, die zweierlei Standards bei der Anwendung der Gesetze insbesondere auch im Hinblick auf die Führer der PAD, die den internationalen Flughafen besetzt hatte, zu beenden, dann hätten sich in den vergangenen 18 Monaten die Dinge vermutlich anders entwickelt.

Nachdem er schon die Gelegenheit versäumt hatte, sich bei Dienstantritt um eine echte Versöhnung zu bemühen, so hätte man denken können, daß wenigstens die Ereignisse an Songkran 2009 Abhisit hätten wachrütteln und dazu bewegen müssen, sich mit seiner Regierung auf die dringendsten Probleme des Landes zu konzentrieren – nämlich die Überwindung der Spaltung zwischen Gelb und Rot und die Beilegung des Konfliktes mit den Moslems im tiefen Süden.

Aber Abhisit regierte, als wäre alles normal. Anstatt sich auf eine Aussöhnung im eigenen Land und die Gewinnung einer Stimmenmehrheit für seine Demokraten bei den Wählern zu konzentrieren, blieb er auf Distanz und verbrachte viel Zeit mit Reisen in wichtige ausländische Hauptstädte und zu Konferenzen, was für sein Ansehen im Lande nichts brachte. Der Fairness halber muß man sagen, daß er und Finanzminister Korn bislang beachtliche Lenkungskompetenz gezeigt und anscheinend verstanden haben, daß die Politik etwas gegen die Kluft unternehmen muß, die im Lande bei Reichtum und Einkommen besteht. Den Willen, dies mit wohl durchdachten Maßnahmen anzugehen, haben sie gezeigt. Trotz der politischen Unruhen trägt ihre Wirtschaftspolitik Früchte und die Wirtschaft befindet sich auf einem Kurs von einem Schrumpfen in 2009 hin zu 6% Wachstum in diesem Jahr.

Leider scheinen aber auch einige ihrer Maßnahmen, wie z.B. die möglicherweise noch als Anschubmaßnahme in Notzeiten zu rechtfertigende Auszahlung von 2.000 Baht pro Kopf, nur politisch motivierte Versuche zu sein, mit den populistischen Maßnahmen mitzuhalten, die man seit Thaksin gewöhnt war. Sollte das stimmen, dann war es vergebens. Es mangelt in Akademikerkreisen, nichtstaatlichen Organisationen und sonstwo nicht an Ideen, was zu tun sei, um die wirtschaftliche Lage der ärmeren Bevölkerungsschichten zu verbessern. Diese müssen in klar verständlicher Form kommuniziert und dann auch umgesetzt werden. Eventuell dürfte hier die Einführung einer Vermögens- und einer Erbschaftssteuer Priorität haben.

Aber Leidenschaft, schnelles Handeln und kühne Visionen sind ebenfalls vonnöten. Und das hat Thaksin geboten. Abhisit dagegen kann nicht einmal sicher wichtige Gegenden im Norden und Nordosten bereisen, und als dieses Jahr die Proteste begannen, bezog er Quartier in einem Armeestützpunkt. In den Augen der Rothemden hat dies nur ihre Ansicht bestätigt, daß diese Regierung sich einzig und allein auf die Macht der Armee stützt. Aber anscheinend war die symbolische Wirkung seines Umzugs auf die Armeebasis Abhisit gleichgültig.

Warum hat ein gebildeter, redegewandter, ehrlicher und hart arbeitender Mann wie Abhisit die Anforderungen der heutigen Zeit nicht erkannt? Warum war er so unnachgiebig bei den Verhandlungen mit den Rothemden und warum hat er die Situation eher noch weiter angeheizt, anstatt Toleranz zu zeigen und der anderen Seite die Hand zu reichen? Warum war er nicht in der Lage, mit der Masse der thailändischen Wähler effektiv zu kommunizieren? Ein paar Erklärungen drängen sich da förmlich auf.

1. Er ist von seiner Art her nicht fähig, sich in Leute hinein zu versetzen, die seine geordnete und rationale Weise, die Welt zu sehen, nicht teilen. Viele thailändische Wähler, die zum wirtschaftlich schlechter gestellten Segment zählen, spüren dies instinktiv und können mit ihm nichts anfangen, selbst wenn das, was er sagt, Sinn macht. Eine ausländische Journalistin, der ein Exklusivinterview mit Abhisit gewährt wurde, erzählte mir, daß ihr Abhisit auf die Frage, was sein Lieblingsbuch sei, den Titel der wirtschaftlichen Abhandlung genannt habe, die er am meisten schätzt. Diese Anekdote gibt einen Hinweis auf die Psychologie dieses Mannes.

2. Er ist ein äußerst verschlossener und zurückhaltender Mann, dessen einzige Vertraute bislang seine Ehefrau war.

3. Er hatte bislang nie mit Leuten zu tun, die nicht aus seinem eigenen "Sukhumvit-Oxford"-Umfeld stammten. Ich frage mich wirklich, mit wie vielen Thais vom Lande er schon jemals Zeit verbracht hat oder wie oft er sich eigentlich bisher ernsthaft mit einfachen Arbeitern unterhalten, ihnen auch wirklich zugehört und darüber nachgedacht hat, was er von ihnen vielleicht lernen könnte. Er scheint äußerst überzeugt von seiner eigenen Rechtschaffenheit zu sein.

4. Der Mordversuch an ihm während der Songkran-Unruhen von 2009 und die Blutschmierereien am Tor seines Hauses haben ihn wahrscheinlich tief getroffen und unerbittlich werden lassen.

Er ist ein Rätsel – einerseits so klug und attraktiv, so erfolgreich bei Debatten im Parlament, so gelassen mitten in der Krise – und dennoch offensichtlich nicht in der Lage, Gefühle über die Tragödie zu zeigen, mit der er es zu tun hatte, unfähig, auf eine persönliche Weise auf die Opfer zuzugehen und von seiner Art her abgeneigt, geduldig auf einen Kompromiß und eine Verhandlungslösung hinzuarbeiten. Verschärfend auf das Problem wirkt sich zudem aus, daß er sich mit Beratern und Assistenten umgeben hat, die seine Schwächen an diesen Stellen nicht ausgleichen können und nicht in der Lage sind, an seiner Stelle den Dialog mit der Gegenseite zu führen. Man hat das Gefühl, daß die Regierung Abhisit zwar tatsächlich versuchte, einige nützliche, fortschrittliche Maßnahmen umzusetzen (wie die Vermögenssteuer, für die Korn plädiert), aber diese wurden schlecht aufbereitet und vorgestellt. Ob man nun für oder gegen Thaksin war, man konnte stets sofort die Maßnahmen aufzählen, die Thaksin in seiner Zeit als Premierminister durchgeführt hat, was das Gefühl vermittelte, daß damals mit Nachdruck an der Lösung der nationalen Probleme gearbeitet worden sei.

Es war offensichtlich, daß Abhisit sich schon immer lieber mit ausländischen Politikern und Wirtschaftsführern getroffen hat, als sich mit seinen Landsleuten in den Provinzen zu unterhalten, und er hat in den ersten 18 Monaten seiner Dienstzeit zweifellos zahlreiche Reisen ins Ausland unternommen, um dort die Thai-Flagge zu zeigen. Eine kurze, aber bezeichnende Nachricht dazu erschien am 4. Juni in der Bangkok Post. Das Blatt berichtete, daß Premierminister Abhisit am 6. Juni nach Vietnam fliegen werde, um "an einem zweitägigen Weltwirtschaftsforum in Ostasien teilzunehmen" und führte weiterhin aus, daß der Premierminister erklärt habe, "Priorität für seine Regierung habe es, das Vertrauen der Staatengemeinschaft wieder zu gewinnen, da politische Probleme hinderlich für die wirtschaftliche Entwicklung seien." Das Blut auf den Straßen an der Ratchaprasong war kaum getrocknet und Abhisits Priorität bestand darin, mit ausländischen Investoren zu sprechen? Die Priorität hätte zu 100% darin bestehen müssen, die Spaltung im eigenen Lande zu überwinden und wieder Harmonie einkehren zu lassen. Wenn es da zu Fortschritten kommt, dann werden auch die internationale Geschäftswelt und die Touristen wieder Vertrauen zu Thailand fassen – und zwar, ohne daß Abhisit an internationalen Konferenzen teilnimmt.

Zu Thailands Pech fehlen Abhisit die Fähigkeiten und die Persönlichkeit, die erforderlich wären, um eine echte Aussöhnung herbeizuführen oder ein kühnes Bild für die zukünftige Entwicklung des Landes aufzuzeigen, das dazu geeignet wäre, den größten Teil des Landes hinter ihm zu vereinen. Er hat sich – beinahe genauso stark wie Thaksin – zu einem Führer entwickelt, der eher spaltend, als harmonisierend wirkt.
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#2 Re: Gedanken zum Aufruhr in Thailand

Beitrag von taro »

sehr gute und neutrale Einschätzung der politischen Situation in Thailand.
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