Unser biblischer Neoliberalismus
Was bewegt Deutschland? Meinungsforscher leben ausschließlich von dieser Frage und lassen sich die Antwort teuer bezahlen. Es gibt aber auch eine andere Möglichkeit, um zumindest eine Tendenz auszumachen: Besuche in der Buchhandlung. Vor allem im Bereich Sachbuch (Unterkategorie Politik und Wirtschaft) wird die Sache interessant. Da ich gestern Abend den Dussmann besucht habe, dieses vielgeschossige Kulturkaufhaus mit Büchern in allen Arten, Themen und Formen, bin ich jetzt auf dem letzten Stand.
Das große Thema, das den Sachbuchleser interessiert: Alles über unsere Ignoranz, unsere Gier und unseren Egotrip. Als Mensch, aber auch als Gesellschaft. „EGOrepublik Deutschland“, „Nach der Ego-Gesellschaft“ oder „Das Ende der Egogesellschaft“ heißen diese Werke. Offenbar sind die Deutschen ein Volk von brutalen Individualisten, die sich mit ausgefahrenen Ellbogen durch ihr Leben schlagen, keine Rücksicht nehmen und dem Schwächeren voller Verachtung ins Gesicht lachen. Zumindest wollen das die Leser dieser Bücher glauben.
Ist das aber so? Ist die Bundesrepublik Deutschland eine sozialdarwinistische Hölle? Das Land, in dem eine sozialdemokratisierte Partei wie die FDP aus dem Bundestag flog, weil sie als zu neoliberal galt? Deutschland gehört weltweit zu den Ländern, die am meisten Geld für soziale Leistungen ausgibt. Soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit sind Themen, die jede erfolgreiche Organisation, egal ob Unternehmen oder Partei, prominent thematisieren muss. Die Deutschen sind verliebt in diese Themen und lehnen Pauschalturteile ab, weil die unfair sind. Es sei denn, es geht gegen Manager und Banker, denn die verbindet man mit dem Neoliberalismus, den man mit sozialer Kälte und Ellbogengesellschaft verknüpft und nicht will. Es reicht schon, im Verdacht zu stehen, solche Werte zu vertreten, um unterzugehen. Siehe FDP.
Offenbar ist unsere Gesellschaft sowohl auf staatlicher als auch individueller Ebene so sozial wie noch nie. Warum also dennoch der Erfolg dieser Tiraden auf unseren Egoismus? Meine These: Gott ist schuld.
Religionen bieten einem wunderbare Möglichkeiten, sich zu schämen und als Sünder zu betrachten, denn vor den widersprüchlichen und totalitären Maßstäben Gottes kann niemand bestehen. Aber er ist heute weitestgehend abgemeldet, schließlich war die Sintflut nicht sozial gerecht und Jesus kein Verfechter der Frauenquote, was schon ein Blick auf seine Jünger beweist. Was sind diese beiden, Vater und Sohn, eigentlich für Leute? Am Ende etwa neoliberale Überzeugungstäter oder so was? Besser weg mit ihnen.
Aber dieses tiefe Bedürfnis danach, Sünder zu sein, bleibt auch ohne sie. Deswegen suchen sich die gepeinigten Seelen eben andere Ersatzdrogen, um sich trotzdem schlecht fühlen zu können. Und offenbar sind trockene Bücher darüber, dass wir an allem schuld sind, genau dieser Stoff.
Wenn das so ist, war die Abkehr von Gott völlig unnötig, denn die beste Selbsthassprosa hat immer noch die Religion zu bieten. Das Buch der Bücher kennt so spannende Kapitel wie „Die EGOrepublik Sodom“, „Nach der Ego-Gesellschaft die zehn Plagen“, oder „Das Ende der Egogesellschaft in Kanaan“. Und an allem waren wir schuld, wir Menschen! Mit unserem Ego, unserer Gier und unserem biblischen Neoliberalismus.
http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/ ... beralismus
Für Waitingtong.
"Ich habe zwar keine Ahnung, aber ich habe gehört und denke daher, dass..." (Bukeo)